Rio Panorama
12. Mai 2013
"Extrem gegensätzlich" ist die Antwort auf die Frage nach dem Leben in Brasilien, die mein Freund und Kollege Uwe Brunn sofort parat hat, wenn er von seinen deutschen Bekannten danach gefragt wird. Seit 6 Jahren lebt er in Rio de Janeiro und arbeitet genau wie ich an der Deutschen Schule. Es lohnt sich Uwes Homepage zu besuchen oder seine Brasilien-Texte zu lesen, wenn man an einem sehr persönlichen Panorama Brasiliens aus der Perspektive eines auf Zeit ausgewanderten Deutschen Interesse hat.
Über mein eigenenes Rio Panorama können die Bilder dieser Rubrik Aufschluss geben. Panoramaaufnahmen faszienieren mich schon seit geraumer Zeit, denn ich finde, dass sie eine ganz eigene Bildrealität bieten, die ein Mehr an Atmosphäre fühlbar macht.
Das, was bei den Panoramabildern an Mehr sichtbar wird, ist nicht nur durch das erweiterte Gesichtsfeld erklärbar. Vielleicht ist es die Zusammenfügung mehrerer Momente, sozusagen eine Mischung aus Film und Foto. Ich erkenne jedenfalls mein Rio auf den Panorama-Aufnahmen besser wieder, als auf den normalen Formaten.
Trotzdem fehlt mir häufig etwas auf meinen Bildern. Es fehlt der Gegenpol. Die andere Seite Rios. Die Seite, die man auch immer fühlt, aber nicht immer sehen kann. Man sieht sie auch nur selten auf den Fotos durchblitzen. Vielleicht im Blick des Pizzabäckers im Lebloner Supermarkt? Oder im Blick des Saftverkäufers weiter oben?
Es ist daher wichtig zu wissen, dass meine Bilder - wie gesagt - in der kleinen Komfortzone Rios entstehen, in der ich mich fast ausschließlich bewege.
So schön es hier ist, manchmal fühle ich mich in der Südzone eingesperrt. Obwohl ich mich auch in der Nordzone ein wenig auskenne, schaffe ich es nur sehr selten, mich dort wieder erden zu lassen. Es gibt auf meiner Homepage ein kleines Album Nordzone - ich habe aber schon lange nicht mehr dort fotografiert. Ich arbeite sehr viel. Wenn ich einmal frei habe, haben alle anderen auch frei. Ohne die Einreihung in stundenlange Staus lässt sich die Metropole in keiner Richtung verlassen. Dazu kommt, dass ich mir täglich ungläubig die Augen reibe angesichts der Veränderungen, die hier geschehen. So gibt es tägliche Preiserhöhungen zu konstatieren. Die Preise hier sind wirklich surreal. Für eine Mietwohnung muss mehr bezahlt werden, als in Zürich. Unter mehreren tausend Euro im Monat ist nichts mehr zu bekommen. Eine normale Wohnung im eher unattraktiven Südzonen-Stadtteil Botafogo kostet leicht eine Millionen Reais und die Käufer stehen trotzdem Schlange bei den Maklern. Geld bzw. Kredite gibt es offenbar wie Sand am Strand der Copacabana. Teure SUVs stehen in den Staus der tropischen Stadt Stoßstange an Stoßstange und lösen die alten VW-Gols und Kombis im Straßenbild mehr und mehr ab. Die überteuerten Restaurants und Shoppingcenter sind voll. Der eine oder andere Kollege hat angesichts dieser Entwicklung schon das Handtuch geschmissen und auf eine Verlängerung seines Auslandsvertrages verzichtet. Trotzdem wird es hier voller und voller. Im Stadtteil Copacabana treten sich die Bewohner buchstäblich auf die Füße.
Ein weiterer Schuss Essig im Wein für unsere Komfortzone ist die wieder ansteigende Kriminalität. Die Medien haben über die Überfälle und Vergewaltigungen berichtet. Die medienwirksame Pazifizierung der Südzonen Favelas (UPP) wird inzwischen mehr als kritisch gesehen und deren Erfolge in Zweifel gezogen.
Aber wie jämmerlich ist mein Gejammer über die Verhältnisse in der Südzone, wenn man den Blick einmal in die eigentlichen, riesigen Teile Rios schweifen lässt, die auf Postkarten kaum abgebildet werden. Hier wohnen mit Abstand die meisten Einwohner Rio de Janeiros.
Die richtige Armut findet man nämlich nicht mehr in der Vorzeige-Favela Dona Marta, die in der Südzone Rios zur Touristenattraktion geworden ist. Man muss sich schon aus dem goldenen Käfig Rio de Janeiros entfernen, dann dauert es nicht lange, bis es ungemütlich werden kann.
Das größte Problem Rios bleibt die brutale Schere zwischen Megareich und Bettelarm und deren scheinbarer Akzeptanz in allen Schichten der Bevölkerung.
Herrenlose Schweine, die in nie geräumten, stinkenden Müllhaufen direkt in Wohngebieten nach Fressbarem suchen sind keine Seltenheit. Kinder, die direkt daneben spielen. Depression pur, besonders wenn einmal nicht die Sonne scheint. Bretterbuden und ärmliche Steinkonstruktionen. Ausweglosigkeit, die einem die Kehle zuschnürt. Solche Eindrücke kann man wenige Kilometer abseits der teuren Südzone Rios leicht erleiden.
Von solchen prekären Verhältnissen scheinen die Betreiber des nagelneuen Nobel-Shopping Centers Village Mall in Barra da Tijuca (dem Mekka der Neureichen) nichts wissen zu wollen. Auf einem dort ausgehängten Fotodruck mit dem Ausblick auf den Strand von Ipanema und Leblon und den Bergen "Dois Irmãos" ist die sich dort befindliche Favela Vidigal einfach wegretuschiert. In diesem Shopping der Edelmarken (Gucci, Louis Vuitton, Prada usw.) hat die Realität der Gegensätze keinen Platz. Was steckt hinter dieser dreisten Verleugnung? Eine tiefe Verachtung allen "Favelados" gegenüber wird von Angehörigen der besitzenden Schichten nicht selten unverblümt zur Schau gestellt. Die in dem Bild offenbarte Wunschvorstellung ist aber eine Steigerung dieser latenten Einstellung hin zu einer aggressiven Forderung. Nichts anders stellt dieses Bild dar: Wir wollen Euch nicht!
Dass es auch anders geht, zeigt das alteingesessene Shopping-Center Rio Design in Leblon. Dort leuchtet die Vidigal in bunten Lichtern neben den "Dois Irmãos" auf dem großen Logo. Als Einladung an die Einwohner der naheliegenden Favela Vidigal ist es aber sicherlich auch nicht gedacht. Die Preise sind - wie überall in der Südzone - wahnwitzig.
So mache ich meine meist abendlichen Streifzüge durch meinen Stadtteil Copacabana und wundere mich weiter.
Über die Menschen, die nach langem harten Arbeitstag in fünfzig bis sechzig Meter langen Schlangen diszipliniert auf den Bus warten, um ihre stundenlange Heimreise in die Nord- oder Ostzone anzutreten. Das wäre auch eine Panorama-Aufnahme, die ich aber nur mit dem Kopf mache.
Über die Dunkelheit, die fast ohne Dämmerung den meist sonnigen Tag beendet.
Über die warmen Temperaturen auch jetzt im Winter.
Und ich wundere mich darüber, dass ich mich trotzdem so zu Hause fühle.
