Autofahren in Brasilien

große Ausnahme in Rio de Janeiro: eine Straße mit Gegenverkehr
große Ausnahme in Rio de Janeiro: eine Straße mit Gegenverkehr

Seit gut sechs Jahren fahre ich in Brasilien Auto. Die meiste Zeit war ich in Rio de Janeiro unterwegs. Aber ich war auch schon in Belo Horizonte (Minas Gerais) und viele Male in Caravelas (Bahia). Genug Erfahrung also für die Beantwortung der Frage: Wie ist das Autofahren in Brasilien respektive in Rio de Janeiro?

 

Das wichtigste vorneweg: Es hat derjenige Recht, der vor dir fährt! Und zwar das Recht zu allem! Im Grunde ist dies die einzige unausgesprochene Regel, an deren allgemeiner Akzeptanz und Einhaltung keine Zweifel bestehen. Deswegen waren die ersten Monate in Brasilien auch ein Martyrium für mich am Steuer, obwohl mir Autofahren in Europa vorher immer große Freude bereitete und ich mich vor für einen erfahrenen Autofahrer hielt. Ständig brachte ich mich und meine Mitfahrer in gefährliche Situationen, wenn ich damit überfordert war, das Verhalten anderer Autofahrer einzuschätzen und mich auch noch auf die Schlaglöcher in der Straße zu konzentrieren. Absolute Aufmerksamkeit in jedem Moment mit beiden Händen am Steuer war gefordert, wenn ich nicht mit anderen Autos kollidieren wollte, die die Spur nicht hielten, nicht blinkten oder bei rot über die Ampel fuhren.

geht nur im Stau: mit einer Hand lenken
geht nur im Stau: mit einer Hand lenken

Inzwischen ist das Auto für mich der Ort, an dem ich mich in Rio am sichersten fühle. Was ist passiert? Ich habe mich offenbar adaptiert. Ich antizipiere das Verhalten der anderen Autos, vor allem derjenigen,  die vor mir fahren. Ich scanne die Straße permanent. In Rio fährt man nur mit der genialen rechten Gehirnhälfte entspannt. Das muss irgendwie umspringen im Kopf. Und dann ist es mit dem Autofahren hier genauso wie mit einem 3-D-Bild, das man zunächst nicht erkennt. Plötzlich wird aus einem chaotischen Farben- und Formendurcheinander ein plastisches Bild. Plötzlich schwimmst du mit im Verkehrsstrom ohne immerzu anzuecken. Die Schwarmintelligenz greift und schaltet dein Gehirn auf Autopilot. Und plötzlich fährst du wieder ganz entspannt, allerdings besser weiter mit beiden Händen am Steuer.

 

Auf der langen Strecke kann dagegen von Entspannung niemals die Rede sein. Die Laster, die die brasilianischen Straßen aufgrund der fehlenden bzw. ungenügenden Eisenbahnlinien überschwemmen machen defensives PKW-Cruising unmöglich. Diese rasen nämlich grundsätzlich am absoluten Limit und holen auch in der fiesesten Serpentine noch alles aus ihrer nicht selten uralten Bolide heraus was geht und überholen Dich selbst dort - ohne Rücksicht auf Verluste. Sie scheuen kein Risiko, wie man an den schweren Unfällen erkennt, an denen sie oft beteiligt sind und an denen man auf einem langen Trip zu oft vorbeifährt. Entweder man fährt schneller als sie, oder sie drohen dich von der Fahrbahn zu bomben. Zu erwähnen sind auch die streunenden Tiere, die die Landstraßen und Autobahnen genauso selbstverständlich bevölkern, wie Fußgänger (oft Frauen mit kleinen Kindern) und Fahrradfahrer. Immer, wenn ich hier spielende Kinder an der Autobahn sehe, denke ich an die Verkehrsdurchsagen im Radio, die in meiner deutschen Heimat eiligst gesendet werden, wenn sich dort einmal ein Kind in der Nähe einer Autobahn verirrt. Die kulturell verschiedene Interpretation von Realität kann gar nicht gegensätzlicher erscheinen, wie dieses Beispiel der Einschätzung von Gefahr und der Wichtigkeit von Menschenleben in Deutschland und Brasilien deutlich macht.

auf dem Weg zur Schule: um 6.34 Uhr noch kein Stau an der Lagune
auf dem Weg zur Schule: um 6.34 Uhr noch kein Stau an der Lagune

Im Stadtverkehr scheint im Gegensatz dazu das Schwarmverhalten der Fahrer Auffahrunfälle und Zusammenstöße zu reduzieren. Jedenfalls kommt es mir so vor, als ob ich in Deutschland häufiger Crashs in der Stadt beobachten konnte. Sehr häufig scheinen dagegen Unfälle mit Motorrädern in der Stadt zu passieren. Während man als Autofahrer sehr oft im Stau steht, sausen die Motorräder mit atemberaubender Geschwindigkeit den Korridor zwischen den kriechenden Autos hindurch. Ich weiß nicht, ob dieses Verhalten hier erlaubt ist, aber die Motorräder bestehen energisch auf dieser Möglichkeit der Zeitersparnis, was sie mit einem permanenten und enervierenden Hupen (es ist meist ein sehr hoher, schriller Hupton) demonstrieren. Wenn man als Autofahrer den Korridor einmal zum Überholen nicht rasch genug vergrößert, erntet man schnell einen bösen Motorradfahrerblick oder eine eindeutige Geste mit Arm und Hand. Man kann sich vorstellen, wie gefährlich dieses Rasen im Korridor ist und welche Unfälle es regelmäßig zur Folge hat, wenn Motorradfahrer in plötzlich geöffnete Autotüren oder spurwechselnde Autos krachen.

 

Dass Autofahrer in Rio eine beträchtliche Zeit des Tages im Stauverkehr verbringen, gehört hier zum Alltag genauso wie das meist sonnige Wetter in der Tropenmetropole. Lieber vier Stunden im angenehm klimatisierten Automatic-Auto sitzen, als während des Berufsverkehrs überfüllte Busse zu benutzen oder sich mit Gewalt einen Platz in einem U-Bahnwagon erkämpfen zu müssen. Jeden Tag kriechen die Autos über die lange Brücke nach Niteroi oder auf der Straße nach Barra da Tijuca, um nur zwei Beispiele für zusammengebrochenen Verkehr aufzuführen. Ab 17.00 Uhr geht in Rio nichts mehr! Was machen die Leute während der täglichen Staus in ihren Autos? Viele schauen Fernsehen. Mehr kann man nicht erkennen, denn die Scheiben der Autos sind in der Regel so stark getönt, dass man die Menschen dahinter nicht erkennen kann. Dies soll zum Schutz vor Überfällen dienen. Die eingeschalteten Fernseher leuchten aber von innen durch die Tönung hindurch. Es ist wirklich erstaunlich, wie viele Autos hier festeingebaute, vollfunktionstüchtige Fernseher im Armaturenbrett verankert haben, auf denen meist der gleiche Sender – nämlich Globo eingeschaltet ist, der die Zuschauer mit Telenovelas und Nachrichten versorgt.    

Sehr gefährlich im Stadtverkehr sind die Omnibusse. Sie werden von prekär bezahlten Desperados gelenkt, die vor dem Leben ihrer Passagiere ebenso wenig Respekt haben, wie vor dem Überleben von Fußgängern, Fahrradfahrern und allen anderen Verkehrsteilnehmern und Lebewesen. Sie fahren stets Vollgas, sobald sich das kleinste Stück freie Straße vor ihnen auftut. Sie reißen das Steuer herum und wechseln die Spur, wie bekloppte halbstarke Führerscheinneulinge und bremsen immer erst im letzten Moment – natürlich voll. Sie schneiden die Autos und halten nicht die Spur. Die Omnibusfahrer werden von den anderen Verkehrsteilnehmern deswegen noch mehr gehasst, als die Taxifahrer. Man versucht zu ihnen so weit es geht Abstand zu halten und schätzt sie besser schnell richtig ein: nämlich als gemeingefährliche Irre.

 

In all den Jahren ist für mich unverständlich geblieben, warum die Autofahrer bei einer grün gewordenen Ampel nicht sofort losfahren. Manchmal wird eine ganze Grünphase verpasst. Liegt es daran, dass die Ampeln von rot direkt auf grün wechseln? Träumen die Brasilianer mehr, als Europäer? Ich weiß es nicht. Es ist ein nerviges Rätsel für mich.

Zwei weitere Herausforderungen des brasilianischen Straßenverkehrs will ich dem werten Blogleser nicht vorenthalten:

 

Es sind die Einbahnstraßen und die Quebra Molas. Ich fange mit den Quebra Molas an. Sie sind über die Fahrbahn geteerte Asphalthügel, die, wenn man Glück hat, vorschriftsmäßig mit gelben Linien überzogen sind. Sie dienen dazu, den anarchistischen brasilianischen Kraftverkehrsteilnehmer zum Bremsen zu zwingen. Überall muss man in Brasilien mit Quebra Molas rechnen: auf Stadtstraßen, Landstraßen und sogar auf Autobahnen. Wer sie übersieht, kann sich glücklich schätzen, wenn er anschließend nur eine neue Auspuffanlage braucht. Manchmal sind die Hügel so hoch, dass das Auto sogar beim schrägen und langsamen Passieren aufsetzt. Wer mit 50 Sachen in eine Quebra Mola fährt, reißt sich unten alles auf. Vielleicht ist in Brasilien deshalb der Umsatz an SUVs und richtigen Geländewagen (besonders beliebt und teuer: kugelsichere Versionen – so genannte „Blindados“) so hoch? Mit ihrem hohen Radstand sind sie von Quebra Moles weniger bedroht, als die vielen teuren BMW- oder Mercedeslimosinen, die inzwischen zum normalen Straßenbild Rios so selbstverständlich dazugehören, wie in jede europäischen Metropole – nur dass diese Fahrzeuge in Brasilien auf Grund der hohen Steuern fast dreimal teurer sind, als in Europa. 

 

In Rio und in vielen anderen brasilianischen Städten gibt es fast ausschließlich Einbahnstraßen. Dieser Umstand erschwert die ohnehin nicht eben einfache Eingewöhnung, denn die Navigation wird dadurch ziemlich kompliziert. Man kann nie einfach wenden, sondern muss, wenn man sich verfahren hat, teilweise kilometerweit weiterfahren, bis ein „Retorno“ kommt. Wenn man jemanden besuchen will, muss man vorher erst herausfinden, aus welcher Fahrtrichtung die Hausnummer zu erreichen ist und so weiter.

 

Von zwei Sorgen ist man in Brasilien als Autofahrer übrigens total befreit: Fußgänger und Radfahrer sind es gewohnt, dem Auto IMMER und UNEINGESCHRÄNKT Vorfahrt zu gewähren. Riourlauber aufgepasst!

 

Ich finde es sehr interessant, wie sich die Kultur eines Landes auf den Straßenverkehr auswirkt und gebe zu, dass mir die anarchistischen Seiten des Autofahrens in Brasilien auch manchmal Spaß machen. Wie sehr ich mich daran gewöhnt habe, zeigen die hupenden Zurechtweisungen deutscher Autofahrer, wenn ich während des Heimaturlaubs mit dem Leihwagen über die perfekten norddeutschen Straßen schwebe und offenbar das Spurhalten nicht millimetergetreu vollzogen habe.

 

 

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Kommentare: 6
  • #1

    Thorsten (Samstag, 06 Juni 2015 01:49)

    Das ist ja ein interessanter und lustig zu lesender Beitrag über das Autofahren in Rio. Ich bin ja mal gespannt, ob wir ähnliche Erfahrungen machen werden, wenn wir uns hier ein Auto kaufen?

    Sehr schön geschrieben!

  • #2

    Alexander Rühle (Samstag, 06 Juni 2015 02:06)

    Bestens beschrieben! Bin seit 2009 in Rio und habe endlich verstanden, ich muss genauso wie die Cariocas fahren. Jahrenlang wurde ich immer frustriert, als ich beim Spurwechseln zuerst meine Blinker einschaltete, und plötzlich merkte, wie die anderen Fahrer in der ersehten Spur, dies als Signal benutzen, sofort jeglichen freien Raum zu besetzen! Wie kann man so ein fieses Verhaltensmuster erklären? Bestimmt denken sie, das blinkende Auto wird mir meinem freien Fahrraum wegnehmen, muss alles unternehmen, egal wie gefährlich dies auch sein mag, um das zu verhindern! Heute benutze ich Blinker nur im absolut letzten Moment, wo ich sicher bin, keiner könne auf mein Manöver reagieren!

  • #3

    Hiltraud (Sonntag, 07 Juni 2015 14:35)

    Man gut, dass ich nicht in Brasilien Auto fahren muss. Lieber bleibe ich Deine Beifahrerin.

  • #4

    Delaine (Sonntag, 07 Juni 2015 15:02)

    Super geschrieben! Sehr authentisch!

  • #5

    Thomas Mand, HH (Sonntag, 07 Juni 2015 19:15)

    Autofahren in Brasilien ist ein Stück weit wie das Eintauchen in die brasilianische Kultur...
    Entweder liebt man sie mit allen positiven und negativen Facetten oder man geht zu Fuß!

  • #6

    Langkau Bruno (Sonntag, 06 März 2016 06:02)

    Hallo, ich habe in 2 Jahren ca. 40.000 Km mit dem Auto zurückgelegt, sehr viel in Brasilien. Ich kann alles unterstreichen, besonders den Satz " es mach Spass". Inzwischen fahre ich gerne in Lima ( nicht Brasilien aber gleich ) und in den Städten Brasilien. Anstrengend sind die Busse auch im engen Stadtverkehr, dan nkommen die 3-Räder und Taxen. Mich wundert oft wieviele Autos auf eine Strasse passen und wieviel Spuren ein doch nur 3 Spurige Strasse haben kann.
    Gut geschrieben.
    Eine blockierte 2 Spurige Landstrasse sind ein Erlebnis. Es stehen sich dann alle Autos Kopf an Kopf gegenüber, es ist ein Wunder das sich Das wieder auflösen kann. Von jeder
    Seite werden beide Spuren so weit wie möglich verwendet, am besten Kaffee Trinken und 3 Stunden warten.

MotivARTion ist

von RobART Kühn